*1962, Bürgerrechtlerin in der DDR
Die in Binz auf Rügen geborene Evelyn hatte »schon immer eine große Klappe«, wie sie selbst über sich sagt. Die einen mochten das an ihr, die anderen mieden sie. Mit der Eigenschaft, alles geradeheraus anzusprechen, musste sie in einem totalitären System wie der DDR irgendwann anecken. Die Macht des »überall unterdrückenden, eingreifenden und überwachenden Staates« spürte sie in allen Lebensbereichen. Die Wendezeit nutzte sie, um die Strukturen der Diktatur abzubauen und half dabei, eine Demokratie zu etablieren.
Heute ist sie Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur.
Dass Angepasstheit belohnt und eigenes Denken sanktioniert wird, das habe ich erst als Jugendliche begriffen.
1987 zog sie in die Hauptstadt und arbeitete als Heilerzieherin bei der Stephanus-Stiftung Berlin Weißensee. Im selben Jahr trat sie einer der oppositionellen Gruppen bei, die es schon seit vielen Jahren gab: dem Weißenseer Friedenskreis. Das war der Moment, ab dem sie sich nicht mehr zurückziehen konnte und wollte. Der Friedenskreis – insbesondere Evelyn Zupke, Mario Schatta (*1963) und Frank Pfeifer (*1962) – deckte bei den Kommunalwahlen vom 07. Mai 1989 Wahlbetrug auf. Die Beweise waren eindeutig. Kontakte zur westdeutschen Presse wurden genutzt. Die DDR-Regierung hatte ihre Glaubwürdigkeit verloren.
Mit anderen zusammen organisierte Evelyn regelmäßige Protestaktionen auf dem Alexanderplatz. »Im Schatten des Massakers der chinesischen Staatsmacht auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking hatten wir Angst. Wir fragten uns, ob so etwas hier auch passieren könnte.« Schließlich war die gewaltsame Niederschlagung der Demonstration nur wenige Wochen her.
Und die Situation spitzte sich weiter zu. Dass sie und ihre Mitstreiter:innen von der Stasi abgeholt und verhört wurden, das war nichts Ungewöhnliches. Doch in den folgenden Wochen wurde die Brutalität, mit der die Staatsmacht vorging, immer größer. »Am 7. September haben sie uns auf dem Alexanderplatz am helllichten Tag zusammengeschlagen. Mein Körper war übersät von Hämatomen, einem Freund haben sie den Arm gebrochen. Es war ein brutaler Exzess.«
Zunächst sah es nicht danach aus, dass Evelyn Zupke, geborene Wiehler, einmal für die Bürgerrechte auf die Barrikaden gehen würde. 1962 geboren, wuchs sie in Binz auf Rügen auf. Die Mutter war Lehrerin. In ihrem direkten Umfeld wurde die DDR nicht kritisch hinterfragt. Nur bei Verwandten in Berlin, die Artist:innen waren, sah sie ab und zu Westfernsehen, und bei ihrem Großvater erlebte sie Distanz zum System. »Ich war sechs oder sieben Jahre alt, als ich bemerkte, dass mein Großvater in Mukran immer etwas wie ›diese Verbrecher‹ sagte, wenn die Genossen im Fernsehen auftraten.«
In ihrer Jugend entwickelte sie eine zunehmend regimekritische Haltung. Aber bis sie sich das selbst eingestand, brauchte es viele kleine Auslöser. Denn alle DDR-Bürger:innen lebten in einer gespaltenen Welt: Das Bildungssystem war verlogen; es gab Mangelwirtschaft, aber im Fernsehen war davon nichts zu sehen. Es bestand eine Diskrepanz zwischen Propaganda und Realität, von der alle wussten.
Aber im Gegensatz zu vielen ihrer Mitschüler:innen auf der Erweiterten Oberschule (EOS) benannte Evelyn Ungleichbehandlungen durch ihre Lehrerinnen und Lehrer offen. Und mit 18 Jahren verließ sie die Freie Deutsche Jugend (FDJ). Vor dem Abitur gab man ihr schließlich zu verstehen, dass sie sich für ein Studium gar nicht erst zu bewerben brauche.
Sie entdeckte die evangelische Kirche als »einen Ort, wo man sich nicht in das System eingliedern musste.« Deshalb begann sie 1984 als pflegerische Hilfskraft beim Diakonischen Werk in Ducherow bei Anklam zu arbeiten. Drei Jahre später wechselte sie zur ebenfalls zur Diakonie zählenden Stephanus-Stiftung in Berlin.
In der Wendezeit hörte Evelyn nicht auf, sich politisch zu engagieren – im Gegenteil. Sie nutzte die Chance der Gespräche am ›Runden Tisch Weißensee‹. Auch arbeitete sie 1990 im Komitee zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit und war Mitglied der Wahlkommission für die erste und letzte demokratische Wahl der DDR.
2011 begann sie in Hamburg ein Fernstudium im Fach Soziale Arbeit. Als sie entdeckte, dass sich ein Lehrbuch und die Vorlesungen auf die Theorien von Eberhard Mannschatz stützten, geriet sie mit Dozent:innen und Rektor in Auseinandersetzung. Mannschatz war in der DDR mitverantwortlich für die Einrichtung des Jugendwerkhofs Torgau, in dem brutale Umerziehungsmethoden herrschten. Evelyn erreichte, dass Rektor und Dozent:innen die Gedenkstätte in Torgau besuchten. Dennoch ließ sie sich aus Protest und auf eigenen Wunsch exmatrikulieren.
In den vergangenen zwanzig Jahren hat sie immer als DDR-Zeitzeugin an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen für Gespräche zur Verfügung gestanden. Dafür, dass sie vor der Wende mutig für Selbstbestimmung, Freiheit und Demokratie eingetreten war, erhielt sie den Verdienstorden des Landes Berlin. Seit dem 17. Juni 2021 bekleidet Evelyn Zupke das Amt der Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur. Sie lebt in Berlin und Hamburg.
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