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Charlotte Schimmelpfennig - Stadtarchiv Sassnitz

Charlotte Schimmelpfennig

1897–1971, Retterin

Mit moralischer Empörung gegen Nazi-Unrecht

Freundlich, hilfsbereit, mit einem gewinnenden Lächeln auf den Lippen – so kannte und mochte man Charlotte Schimmelpfennig in ihrer Heimatstadt. Deshalb dürften viele entsetzt gewesen sein, als im November 1938 ausgerechnet diese Frau durch Sassnitz’ Straßen getrieben, verhöhnt und misshandelt wurde. Und das Spießrutenlaufen war nur der Anfang: Die Sassnitzer Pensionsbesitzerin wurde unmittelbar danach in »Schutzhaft« genommen, die perfide Umschreibung für eine willkürliche Festnahme ohne Urteil. Warum? Sie hatte dem jüdischen Ehepaar Lemo Unterkunft gewährt. Es ist nicht bekannt, was aus den Lemos geworden ist und wann die mutige Sassnitzerin wieder freikam. Allerdings muss es vor Kriegsende gewesen sein.

Wo ist die Polizei, dein Freund, dein Helfer?

(Charlotte Schimmelpfennig während des Spießrutenlaufs durch Sassnitz)

Biografie

1897
Geburt als Tochter des Kaufmanns Ernst Wilhelm Heidemann und seiner Frau Klara Hedwig Betty am 12. April in Crampas
1917
Eheschließung mit dem Kaufmann Arthur Sander am 5. Oktober in Sassnitz. Die Ehe wird später geschieden.
1926
Eheschließung mit dem Eisenbahn-Betriebsassistenten Carl Robert Schimmelpfennig
1934
Die Ehe wird geschieden.
1935
Übernahme der von den Eltern 1917 erworbenen Sassnitzer Villa Aegir nach dem Tod des Vaters. Hier gewährt sie über Jahre Verfolgten Quartier.
1938
Im Zuge der Reichspogromnacht am 9./10. November wird Charlotte Schimmelpfennig öffentlich gedemütigt, misshandelt, anschließend verhaftet und nach unbekannter Frist freigelassen.
1942
Sie hilft bis Kriegsende etlichen polnischen Zwangsarbeitern und sowjetischen Kriegsgefangenen.
1945
Am 3. Mai organisiert sie mit anderen eine Frauendemonstration für die sofortige Kapitulation.
1971
Am 12. August stirbt Charlotte Schimmelpfennig im Alter von 74 Jahren.

Villa Aegir, Foto: Susanna Gilbert

Unterschlupf für Zwangsarbeiter

Unbeirrt und allen Schikanen zum Trotz setzte sich die »Lotte« auch nach ihrer Freilassung für andere ein. Dabei folgte sie konsequent ihrem humanistischen Kompass, ließ sich allein von ihrer moralischen Empörung leiten. In ihrem Haus, der Villa Aegir gewährte sie polnischen Zwangsarbeitern Unterschlupf. Sie pflegte die Kranken, verschaffte ihnen illegal Lebensmittelkarten und kleine Arbeiten in der Nachbarschaft. Auch half Charlotte Schimmelpfennig Kriegsgefangene auf die Fähre in das neutrale Schweden und damit in die Freiheit zu schmuggeln. So im Juli 1943 beispielsweise drei sowjetischen Soldaten: In Charlottes Villa hatten sie sich mit einer schwedischen Stewardess verabredet, die ihnen Uniformjacken von der Fähre nach Trelleborg mitgebracht hatte. Also als Crewmitglieder verkleidet und mit deutschen Papieren für den Landgang ausgerüstet, liefen sie Arm in Arm mit ihrer Retterin durch Sassnitz’ Straßen in den Hafen, auf die Fähre Richtung Norden, übers Meer, heraus aus Nazi-Deutschland.

Pfiffig, freundlich - zweimal geschieden

»In großer Not zeigt sich der große Mut«: Nicht auf viele Menschen trifft das Sprichwort so zu wie auf Charlotte Ulrike Auguste Schimmelpfennig. Als sie am 12. April 1897 das Licht der Welt erblickte, konnte niemand ahnen, wie viele Gefahren sie später einmal meistern sollte. Für ihre Eltern, den Kaufmann Ernst Wilhelm Heidemann und seine Frau Betty, blieb sie das einzige Kind. Zwei weitere Töchter, Elisabeth und Luci, starben im ersten Lebensjahr. Die kleine Familie lebte in dem Dorf Crampas, das später Ortsteil der Stadt Sassnitz wurde, und betrieb dort eine »Colonialwaren und Delikatessen-Handlung«. Das Geschäft lief offenbar so gut, dass der Vater 1917 die Villa Aegir erwarb. Nach dem Tod der Eltern erbte die Tochter 1935 das Gebäude.
1917, also im Ersten Weltkrieg, heiratete Charlotte den Sanitätsgefreiten und Kaufmann Arthur Sander. Aus der Ehe, die später geschieden wurde, entstammt Tochter Ingeborg. 1926 trat sie erneut vor den Standesbeamten, dieses Mal mit dem Bahnangestellten Carl Robert Schimmelpfennig. Auch diese Ehe scheiterte, sie wurde 1934 geschieden.
Für eine Frau war Scheidung damals zumeist ein unverzeihlicher gesellschaftlicher Makel. Nicht so für Charlotte. Mit ihrem lebhaften, hilfsbereiten und freundlichen Wesen pflegte sie viele Freund- und Bekanntschaften. Von Zeitzeug:innen wurde sie auch als pfiffig und intelligent beschrieben. Wirtschaftlich litt sie offenbar auch nach den Scheidungen keine Not. Die Vermietung von Zimmern sorgte für ihr Auskommen. Zudem soll sie als Lehrerin für Deutsch und Schwedisch gearbeitet haben. Nach anderen Quellen hat sie als Telefonistin bei der Post ihr Geld verdient.

Quelle: Stadtarchiv Sassnitz
Stolperstein, Foto: Susanna Gilbert

Frauendemo in den letzten Kriegstagen

Ihren außergewöhnlichen Mut zeigte Charlotte Schimmelpfennig auch in den letzten Kriegstagen. Sassnitz war Anfang Mai 1945, wenige Tage vor Einmarsch der sowjetischen Truppen, ein Pulverfass: Tausende waren in die Hafenstadt geströmt, um von dort aus mit dem Schiff die Insel fluchtartig zu verlassen. Ungezählte Flüchtlingstrecks verstopften die Straßen. Unterdessen ließen die Nationalsozialisten einen dreifachen Verteidigungsring um Sassnitz ziehen. Dabei ging es ihnen nicht mehr um den Schutz der Insel, sondern um die Sicherung des Hafens, von dem aus die Menschen fliehen wollten.
In diesem Chaos organisierte Charlotte mit anderen beherzten Sassnitzerinnen am 3. Mai 1945 eine spontane Protestkundgebung, der rund 200 Frauen folgten. Nach Augenzeugenberichten forderte eine Abordnung der Demonstrantinnen vom Inselkommandanten Generalmajor Hans Voigt die sofortige Kapitulation. Der überrumpelte Offizier vertröstete die Frauen auf den nächsten Tag. Als sie erneut den Kommandanten aufsuchen wollten, war er bereits geflohen. Nach anderen Quellen soll der NSDAP-Ortsgruppenleiter Franz Jacobi die Frauen zur Rede gestellt haben. Darauf verpassten die ihm eine Tracht Prügel, nach der er sich schnell aus dem Staub machte. Am »Hotel am Meer«, dem Sammelpunkt der Kundgebung, erinnert bis heute leider keine Tafel an den Todesmut der Sassnitzer Frauen. Charlotte Schimmelpfennig starb am 12. August 1971 in ihrer Heimatstadt. Sie wurde 74 Jahre alt.

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