1933–1973
Schriftstellerin
Ein kräftezehrendes Leben
Sie lebte intensiv und unkonventionell, eckte an und fasziniert bis heute. Vor allem wegen ihres, in Neubrandenburg geschriebenen Romans ›Franziska Linkerhand‹ und ihrer Tagebücher ist Brigitte Reimann noch immer eine schillernde Figur im Literaturbetrieb. Unbeirrt folgte sie einer gesellschaftlichen Utopie. Ihre Gesundheit hielt diesem ruhelosen, kräftezehrenden Leben nicht stand.
Nur das Werk wiegt. Die Frau, die ich im Spiegel sehe, und ihre Leidenschaft und Schlechtigkeiten haben kein Gewicht.
1933 Brigitte Reimann kommt am 21. Juli in Burg bei Magdeburg auf die Welt
1947 Sie erkrankt an Kinderlähmung und beschließt Schriftstellerin zu werden
1949 Erstes Schultheaterstück geschrieben
1951 Zunächst arbeitet sie als Lehrerin
1953 Erste Ehe mit Günter Domnik, Scheidung 1958
1956 Erste Buch-Veröffentlichung ›Kinder von Hellas‹
1959 Zweite Ehe mit dem Autor Siegfried Pitschmann, Scheidung 1964
1960 Umzug nach Hoyerswerda
1960 2. Preis in der Nationalen Runde des Internationalen Hörspielpreises für ›Ein Mann steht vor der Tür‹ mit Siegfried Pitschmann
1961 Kunstpreis des FDGB für Literatur für zwei Hörspiele
1962 Kunstpreis des FDGB für ›Ankunft im Alltag‹
1964 Dritte Ehe mit Hans Kerschek, Scheidung 1970
1965 Heinrich-Mann-Preis für ›Die Geschwister‹
1968 Umzug nach Neubrandenburg
1971 Vierte Ehe mit Rudolf Burgartz
1973 Brigitte Reimann stirbt am 20. Februar in Berlin an Krebs
1974 Ihr unvollendet gebliebener Roman ›Franziska Linkerhand‹ erscheint
Brigitte kam als ältestes von vier Geschwistern am 21. Juli 1933 in Burg bei Magdeburg auf die Welt. Mit 14 Jahren erkrankte sie an Kinderlähmung, musste sechs Wochen auf einer Isolierstation verbringen und behielt davon ein Leben lang eine Gehbehinderung zurück. Dennoch: Durch diese schwere Krankheit erwuchs in ihr der Wunsch, Schriftstellerin zu werden. Schon als Schülerin am Gymnasium schrieb sie ein Theaterstück. Die Resonanz der Zuschauenden, vor allem der Lehrer:innen, ermutigte sie, an dem Plan festzuhalten und weiterzuschreiben. 1950 erhielt sie den ersten Preis beim Ideenwettbewerb für Laienspiele an der Volksbühne der DDR. Ab da veröffentlichte sie regelmäßig – zunächst intensiv gefördert vom Burger Schriftsteller Otto Bernhard Wendler. Bekannt wurde sie mit der Erzählung ›Die Frau am Pranger‹.
Sie wuchs in Zeiten geschichtlicher Umbrüche in Deutschland auf. Das Ende des Weltkriegs und die Gründung der DDR 1949 weckten vor allem bei jungen Leuten die Hoffnung auf einen Neuanfang. Es war eine kollektiv gelebte Utopie. Gerade die leicht zu begeisternde, gefühlsbetonte Brigitte setzte alles daran, den Aufbau dieses neuen Systems zu unterstützen.
Mit 20 Jahren heiratete sie den Maschinenschlosser Günter Domnik (1933–1995). In einem von ihr selbst verfassten Lebenslauf vom 07.04.1954 schrieb sie: »Im Januar des Jahres wurde mein Kind geboren. Es starb noch am selben Tage.«
Nach einem halbherzigen Versuch, sich als Buchhändlerin ausbilden zu lassen, beschloss sie, freie Schriftstellerin zu werden. Ihr erster Erzählband ›Kinder von Hellas‹ – eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund griechischen Partisanenkampfs – erschien 1956 im Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung Berlin. Nach der Veröffentlichung des Buches wurde sie im Deutschen Schriftstellerverband aufgenommen. 1958 ließ sie sich von Domnik scheiden, ein Jahr später heiratete sie Siegfried Pitschmann (1930–2002). Die beiden hatten sich in einem Schriftsteller-Erholungsheim kennengelernt.
Mit diesem zweiten Ehemann zusammen half sie tatkräftig beim Aufbau der DDR. 1960 zog das Paar in eine Wohnung in Hoyerswerda. Die neu gebaute ›sozialistische Wohnstadt‹ galt als Sinnbild des aufstrebenden Systems. Fortan arbeitete Brigitte zweimal wöchentlich im VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe als Rohrlegerin. Und sie leitete mit Siegfried zusammen den ›Zirkel schreibender Arbeiter‹, schrieb für die Betriebszeitung und unterstützte das Arbeitertheater. Kulturarbeit in der Industrie angesiedelt – der »Bitterfelder Weg« – sollte die Kluft zwischen Kulturschaffenden und Arbeitenden überwinden.
Von diesen Erfahrungen geprägt erschienen von Brigitte Reimann Erzählungen, Romane, ein Fernsehspiel, zwei Hörspiele, teilweise mit ihrem Ehemann gemeinsam verfasst. Doch trotz dieser augenscheinlich funktionierenden Beziehung ging Brigitte schon ein Jahr nach der Hochzeit, 1961, eine Affäre mit dem Raupenfahrer Hans Kerschek (1932–1995) ein. Die Ehe wurde zur Dreiecksbeziehung, 1964 ließen sich Brigitte und Siegfried scheiden.
Ihre Erzählung ›Ankunft im Alltag‹ prägte den Begriff »Ankunftsliteratur« in der DDR. 1963 veröffentlichte der Aufbau-Verlag ihre Erzählung ›Die Geschwister‹, in dem sie ihr bereits zwiespältiges Verhältnis zum System reflektiert. Es geht um Republikflucht, ein Thema, das vor und nach dem Mauerbau sehr viele DDR-Bürger:innen beschäftigte. Ihr Zwiespalt zeigte sich auch darin, dass sie kurz inoffizielle Mitarbeiterin bei der Staatssicherheitsbehörde der DDR war. Mit einem Bekennerbrief an den Schriftstellerverband beendete sie diese Zusammenarbeit. Ihre grenzenlose Euphorie dem sozialistischen Staat gegenüber hatte erste Risse bekommen.
Erst kürzlich, 2023, sind bei Renovierungen private Papiere von ihr in einer Abstellkammer in Hoyerswerda gefunden worden, darunter das Erstmanuskript von ›Die Geschwister‹. Der Aufbau-Verlag brachte daraufhin eine überarbeitete Neufassung der Erzählung heraus. Der Vergleich zeigt, dass in bisherigen Veröffentlichungen etliche kritische Töne gegenüber dem Staat dem Rotstift zum Opfer gefallen waren.
Endgültig wandte sich Brigitte vom System ab, als im August 1968 eine halbe Million sowjetische Soldaten in die Tschechoslowakei einmarschiert waren und dem Prager Frühling gewaltsam ein Ende gesetzt hatten. »Ich war ein gutgläubiger Narr. Seit der ČSSR-Affäre hat sich mein Verhältnis zu diesem Land, zu seiner Regierung, sehr geändert. Verzweiflung, manchmal Anfälle von Hass.« (Brigitte Reimann im Tagebuch).
»Es war einmal eine Schriftstellerin, die an eine große Sache glaubte und an einer großen Sache zweifelte. Die sich nach fremden Ländern sehnte und nur die Nachbarschaft zu sehen bekam: Polen, Prag, Moskau und allerdings das herrliche, unvergessliche Sibirien, Baikalsee und die Taiga.« (Tagebuch 1973). 1964 reiste sie mit einer Delegation der Freien Deutschen Jugend nach Sibirien. Für ihre Reisebeschreibung ›Das grüne Licht der Steppe‹ erhielt sie Auszeichnungen. Überhaupt avancierte sie in den 1960er Jahren in dem von Männern geprägten Staatsapparat zu einer Star-Autorin, die geehrt, aber auch für die eigenen Zwecke benutzt wurde.
Ihre Erfahrungen in Hoyerswerda begann sie 1963 in den 11 Jahre später posthum erschienenen Roman ›Franziska Linkerhand‹ einzuarbeiten. Die Protagonistin, eine Architektin, kämpft darin bis zur Selbstaufgabe um die ästhetischen und moralischen Ideale beim Bau der Satellitenstadt N. – und verliert. In ihrem wichtigsten Werk versteht die Autorin es meisterhaft, private, gesellschaftliche und fiktionale Elemente zu verweben.
Nach der Scheidung von Siegfried Pitschmann heiratete sie noch im selben Jahr, 1964, ihren Bis-dato-Liebhaber Hans Kerschek, den sie selbst Jon K. nannte.
Vier Jahre später erfuhr sie von ihrer Krebserkrankung und zog nach Neubrandenburg. Ihre große Liebe kam nicht mit. Wenig später wurde ihr bekannt, dass er ein Kind von einer Sekretärin erwartete und ließ sich 1970 scheiden. Rastlos arbeitete sie nun an dem Manuskript von ›Franziska Linkerhand‹, während die Krankheit sie nach und nach vereinnahmte. 1971 heiratete sie zum vierten Mal, den Arzt Rudolf Burgartz (1943–2015), den sie in der Klinik kennengelernt hatte.
Am 20. Februar 1973 erlag Brigitte Reimann, 39-jährig, in der Berliner Robert-Rössle-Klinik ihrem Krebsleiden.
Ihr unvollendet gebliebener Roman ›Franziska Linkerhand‹ erschien im Jahr darauf.
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